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01
September
Ich will nicht!
Richtig trotzig, was? Aber die ganzen London-Attraktionen interessieren mich einen Scheiß. Alles, was als Tipp schriftlich oder von den Normalos angepriesen wird, ist doch eh langweilig. Und außerdem war ich schon da, auf Studienfahrt. Wahrscheinlich wäre es sogar richtig nett: Ein schrumpeliger Kauz führt einen durch die Dungeons oder den Tower und erzählt mit herrlich englischer Stimme Ankedoten und reißt dabei immer ein paar zotige Witze mit den anwesenden Frauen. Mir aber gefällt im Moment die Vorstellung einfach in London zu arbeiten, heimzufahren und zu lesen oder zu schreiben. Ich will nicht. Auch nicht mit den netten Kollegen einen pint heben. Oder witzige Sprüche reißen. Oder die Konversation in Gang halten. Ist jetzt nicht mehr meine Aufgabe. Dann schweige ich eben mal. Wenn ich gefragt werde, wo ich wohne, gebe ich brav Auskunft. Mehr nicht. Das 1000-fache "Thank you so much" mit den Engländern ist Pflicht-Freundlichkeit genug. Mal sehen wie es sich so leben wird. Interessante Leute lernt man eh nicht durch Anbiederrei kennen. Deshalb kann ich die Aufforderung ausschlagen in den Pub zu gehen. Verbrüderei beim Bier, danke Nein. (Allerdings bin ich dabei immer noch entschuldigen und höflich. Scheiße.) Ich hab' es schon beim Studienbeginn gewusst: So findet man niemand. Durch trotzige Muffelei aber wohl auch nicht.
Die netten Praktikums-Kollegen taugen für das übliche Geschwatze. Ich wünschte ich würde mich für ihre Themen interessiern...

 
 
Anekdoten
- Am Flugenhafen schmeißt sich ein Stimmbruch Engländer auf das Gepäckband, lässt sich ein paar Meter davon tragen und schreit krächzend um Hilfe. Sein Vater lacht smart.

- Beim ersten Frühstückseinkauf suche ich Cornflakes im Cornershop. Nach 3 Minuten Suche im 20 qm shop frage ich die fette, schwarze Verkäuferin. Die führt mich in einen dunklen Gang und klettert auf einen Stuhl. In der Hand hält sie so eine Müllsammlerzange und greift damit auf meinen Wunsch nach einer Packung Crunchynuts und schmeißt sie auf den Boden. Bestimmt braucht man 10 Jahre, bis man die Technik beherrscht.

 
 
Der Beginn
Lässig schaffen wir das zum Zug. Sind ja noch 10 Minuten Zeit. 2 Minuten mit dem Bahnautomaten kämpfen und dann locker zum Gleis 3. Coccinella kommt mir schon entgegen, der Zug ist weg. Immer locker bleiben, sag ich. Demonstrativ den Coolen gegeben. Nehm ich halt den nächsten Zug. Der braucht zwar 2 Stunden länger und bei einer Verspätung wird's knapp mit dem Flug, aber das passiert MIR doch nicht. Wird schon klappen. Klappt dann auch. Mit teutonischer Präzision und ohne jeden Fehler erreiche ich Johnsons Manison in Kensington. Michelle macht mir auf, ruft ein "Nice to meet you" und verschwindet in ihrem Zimmer. Ich lege mich aufs Bett und blättere im Spiegel. So. Buhlmann ist also ein Schwachpunkt im Kabinett. Aha. Warum nicht einfach bei Michelle klopfen? Vielleicht ist das in England ja ok? Bestimmt ist sie Single und geil auf mich. Zu solchen Gedanken verderben mich Film und Literatur, nicht aber meine Realität. Bestimmt gibt's die Leute aber wirklich, die an der Bar stehen und sich dahinter einen wichsen. Oder eben solche Beziehungen wie in "l'auberge espagnol". Eigentlich ist die WG hier genauso: 1, jetzt 2 Deutsche, eine Polin, eine Südafrikanerin und 2 Neuseeländer. Ich denke im Grunde nur an Michelle und Sex, weil ich es nicht glauben kann. Deswegen wird mir sowas auch nie passieren. Meine Welt ist nicht so verdorben. Und ich bin stolz darauf!
Nach kurzer Zeit kitzelt mich die Sonne an der Nase wie in dem dummen Viertklässlerlied. Ich wundere mich, warum mir alles so klar ist. Es ist Montagmorgen, ich bin in London. Im winzigen Zimmer meines Bruders. Morgen beginnt mein Praktikum. Erstmal frühstücken.
Nach einem holprigen Gepräch mit Anja wird schnell klar, dass ich Putzdienst habe, weil mein Bruder faul war. Anja sagt das zwar vorsichtig und nett, aber auch unmissverständlich. Naja, ich hab ja eh nichts zu tun. Also mit deutscher Gründlichkeit an diese englische WG. Wenn schon, denn schon. Danach die Einleitung meiner Bachelor-Arbeit überarbeitet und dann ab in die city. Putzzeug einkaufen. Das ist auch WG-Pflicht, daran erinnert der "Duties" Zettel in der Küche. Ich verlasse die tube in Hyde Park Corner und London bricht auf mich herein. Bin ich so provinziell oder ist diese Stadt so weltstädtisch? Ich wusste gar nicht, wieviel Luxusmarken ich kenne. In dem Viertel, durch das ich laufe, begegnen mir alle: Dolce&Gabbana, Armani, Versace, Gucci, Chanel, Boss, Ralph Lauren und 50 mehr. Alle anderen Städte können einpacken. Doch die Geschäfte sind nicht die Hauptsache. Die Hauptsache bin ich. Alleine in den Straßen. Suche die Umgebung mit meinen Augen ab. Fotografiere die Londoner Frauen mit meinen Blicken. Und diese Frauen sind wirklich Fotos wert. Ich überlege, ob ich nicht einfach fotografierend durch die Stadt laufen soll. Diese unglaublich trendigen Ponny-Frisuren, Berlin ist nix dagegen. Berlin ist häßlich und schmuddelt, aber nicht unattraktiv. Auch die Frauen. Aber London... hier tragen die Mädchen strahlend reine Lumpenwäsche. 3 weiße Tops oder eher Männerunterhemden übereinander geknuddelt, eine wild zerschnittene Frisur und einen Blick, der mir meine oberschwäbischen Wurzeln unangenehm schnell klar macht. Ich bin der Beobachter. Ich gehöre nicht dazu. Eine fremde Welt aus Schwarzen, Asiatinnen und Indern strömt um mich. Englische, deutsche und italienische Sprachfetzen flattern durch die Luft. Immer schneller fotografieren meine Augen. Immer mehr Schilder werden gescannt: Steht hier etwas seltsames? Ist eine Capri-Sonne Verpackung in London seltsam? Heißt das bei uns nicht jetzt Capri-Sun? Oder sind sie wieder zun alten Namen zurück, wie die Saltlets auch?
Der Hyde-Park ist definitiv das seltsamste, was ich in letzter Zeit erlebt habe. Ich durchquere die Pforten und treffe auf Blicke, dir mir sagen: Du bist einer von uns. Wir gehören nicht nach da draußen, in die Stadt. Hier bist du sicher, wir sind auch genervt von dem Lärm. Es ist ein brummender Lärm, der von dieser Oase (ja, so platt empfinde ich im Moment) erst bewusst wahrnehmbar ist. In einem Liegestuhl beobachte ich Schwäne und spielende Kinder. Ganze Familien fliehen in den Hyde-Park. Und ich bin allein. Es tut gut allein zu sein. Alleine zu denken. Den Wind in den Haaren bewusst wahrzunehmen. Doch viel kommt dabei nicht raus. Auch nicht alleine. Ich denke nur mehr, distanziere mich deutlicher. Ein paar Wochen alleine und es könnte was draus werden. Dann fängt das Gehirn an zu spinnen. Dann kommen einem die richtigen Gedanken, da ist die Welt nicht mehr so, wie sie mir alle befehlen wollen. Dann macht man sich seine eigene. Doch momentan wirft mich noch jedes deutsche Auto raus. Und die sind überall und sehr luxuriös. Auch Stretch-Daimler mit Ölscheichchauffeurvisagen drin. Kann man auf die deutsche Automobilindustrie stolz sein? In der WG hören die Surfer-Neuseeländer Cat-Stevens und tragen Rastalocken.
Müssen alle Klischees so verdammt wahr sein?

 
 
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Last update: 4. Mai, 17:48
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