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06
September
Kulturproleten
Diesen Sonntagabend hatte ich eines der seltsamsten und schönsten Erlebnisse meines Lebens. Jawohl, das Pathos ist angebracht. Diesen Sonntagabend gingen mein Bruder und ich zu einem BBC Prom Konzert in der Royal Albert Hall. Es gab die Schönberg Variationen und Beethovens Neunte. Zu so einem Anlass zieht man gerne mal ein Hemd und ein Jackett an. Auf der Suche nach der Halle trafen wir zwei Blocks früher auf eine Menschenschlange. Die Leute saßen oder standen eher verlottert gekleidet und lesend, fressend und schwitzend lose gereiht nebeneinander an den Häusern entlang. Geduldig und anscheinend schon seit Stunden. Wir liefen eine Weile die Schlange hoch und stellten uns zögernd daneben. Der Eingang war 50m vor uns, die Schlange hinter uns erstreckte sich jetzt über mehrere Häuserblocks und war nicht vollständig zu überblicken. Zögernd stellten wir uns neben die Schlange und mit einem ziemlich schlechten Gewissen waren wir ziemlich schnell ein Teil von ihr. Es war kaum zu glauben: Hunderte Engländer warteten seit zwölf Uhr Mittag in einer Schlange auf den Einlass und es gab keinerlei Sanktionsmechanismen wenn man die Regeln brach. Nicht einmal strafende Blicke. Bis zur Kasse fürchtete ich noch geheime Attacken von Engländern, die über unsere teutonische Ungehobeltheit aufgebracht wären. Es passierte aber nichts, gar nichts. Wir konnten zwar nur noch Stehplätze auf dem obersten Balkon ergattern, aber das ging den anderen Wartenden auch so. Die Sitzplätze waren seit langem ausverkauft, die Berliner Philharmoniker sind auch in London begehrt.
Die Royal Albert Hall war bis auf den letzten Platz voll, an die 10.000 Leute waren im Saal. Doch was für Leute! Langhaarige Fetthaar-Informatiker, spielende Kinder, Greise mit Rauschebärten. Manche saßen an die Wand gelehnt, andere lagen am Boden, immer noch wurde gelesen und gefuttert, trotz edler Umgebung.
Doch als das Konzert begann war alles still. Ich kenne mich mit Musik nicht aus, aber niemandem konnte entgehen, dass Sir Simon Rattle und die Philharmoniker das Publikum unter sich hatten. Kein Husten, kein Rascheln an den leisen Stellen. Und beim finalen Chor kamen selbst den Tätowierten die Freudentränen. Ein großes Ideal hatte ALLE ergriffen.

PS: In der Pause suchte ich eine Toilette. Unter der Halle fand ich einen runden Versorgungsgang, der aussah wie die Verließe unter dem Kolloseum. Überall Gerümpel und ein verrosteter Mars-Automat. Die Türen standen offen und so sah ich, dass hier offensichtlich Leute wohnten. Ein Fernseher flimmerte und auf dem Bett saß eine Putzfrau die sich Schokoriegel in den Mund schob. (Schon wieder ein Vergleich: Sie sah aus wie der Maulfwurfmann im Tunnel der Liebe bei Sam&Max. Überhaupt sah das ganze Zimmer so aus.)

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Last update: 5. Mai, 16:08
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